Sunday, November 1, 2015

IM Schweben.Dankrede zum Thomas Mannpreis


 


München 29.10.2015

 Wie finden junge Menschen ihre Bücher? Ganz sicher nicht zufällig.
Ich weiß nicht genau wie, aber so schreibt Stefan Zweig in seinem Buch Die Welt von Gestern: sie finden, was sie brauchen. Sie finden es mit  der gleichen, mystischen Präzision, mit der Wespen an einem Sommertag in Västmanland ein Glas Himbeersaft über mehr als zehn Kilometer hinweg durch menschenleere Wälder finden. Es bleibt festzustellen, dass es so ist. Ich glaube, ohne die frühe Begegnung mit Thomas Mann wäre ich nicht Prosa-Schriftsteller geworden. Thomas Mann war eines meiner Idole, obwohl es in meinem Alter natürlicher gewesen wäre, sich mehr für die ausgezeichnete Richmal Crompton zu interessieren.
Seine Romane waren eine frühe Entdeckung in meinem Leben. Ich entsinne mich nicht mehr, wer mich darauf aufmerksam gemacht hat. Doch Tatsache ist, dass ich mit der Lektüre von Doktor Faustus in der beim Exilverlag Bermann-Fischer 1947 in Stockholm erschienen deutschen Ausgabe begonnen habe, dann aber sehr bald zur ersten schwedischen Übersetzung wechselte, überwältigt vom Reichtum des medizinischen, musiktheoretischen und theologischen Vokabulars.
 Was habe ich da gefunden? Ich möchte stellvertretend nur zwei Passagen dieses großen, reichen Erzählwerks anführen, die mir mit besonderem Glanz und den Verlockungen des Geheimnisvollen für immer im Gedächtnis geblieben sind. Es war die Zeit meiner intensiven Leseerlebnisse in den frühen fünfziger Jahren als mir die Existenz dieses großen deutschen Dichters das erste Mal bewusst wurde.

Ich werde sie chronologisch gänzlich ungeordnet wiedergeben.
In Kapitel 8 des Doktor Faustus hält der exzentrische, stotternde, und ein klein wenig dämonische deutsch-amerikanische Organist Herr Kretschmar,seinen belehrenden Vortrag über die Frage: ”Warum Beethoven zu der Klaviersonate Opus 111 keinen dritten Satz geschrieben habe”.
            Seinen atemlos faszinierten Zuhörern, darunter die Freunde Serenus Zeitblom und Adrian Leverkühn, erläutert Kretschmar das merkwürdige, ja fast obszöne Abenteuer, das es bedeutet, das ländlich einfache und unschuldige Thema d-g-g- (Lie-besleid, Wiesen-grund) einem halsbrecherischen Labyrinth von Variationen zu unterwerfen. Hier kommt der Höhepunkt  im ”Adagio molto, semplice, e cantabile”:

Das Charakteristikum des Satzes ist ja das weite Auseinander von Baß und Diskant, von rechter und linker Hand, und einen Augenblick kommt eine extremste Situation, wo das arme Motiv einsam und verlassen über einem schwindelnd klaffenden  Abgrund zu schweben scheint  - ein Vorgang bleicher Erhabenheit, dem alsbald ein ängstliches Sich klein Machen, ein banges Erschrecken auf dem Fuße folgt, darüber gleichsam, das so etwas geschehen konnte. ”

Ich habe mich nie von dem Gedanken freimachen können, dass Thomas Mann hier etwas sehr Intimes, sehr Authentisches über sich selbst gesagt hat.
            Diese merkwürdige Stelle in der Arietta, wo das Thema – wie es zuweilen vorkommen kann – lebensgefährlich über einem Abgrund ganzer Takte von Trillern schwebt hat ein Kritiker als eine der entscheidenden Stellen in der westlichen Kunstmusik beschrieben. Die Zeit, nicht die Töne sind ja das Grundmaterial der Musik. Und hier scheint der Zeitfluss für einige Takte im hegelianischen Sinne aufgehoben. Die Musik verlässt für einen Moment das Musikalische und  wird zu etwas anderem.
            Es ist viel geschrieben worden über Thomas Mann und ich trete ungern in den Wettstreit mit Experten. Aber genau diese Stelle in diesem großen Künstlerroman scheint mir etwas Wesentliches über Thomas Mann sichtbar zu machen.
            Parodie oder Illumination – das sind die zwei Alternativen, die der Teufel Doktor Faustus als die beiden Möglichkeiten anbietet. Sicher nicht zufällig finden wir einen ähnlichen Gedanken häufiger bei T. S. Eliot. Die Zeit hatte etwas von diesem Lähmungsgefühl.
            Die Parodie liegt bei Thomas Mann immer nahe, das Absurde auch. Konsul Buddenbrook stirbt an einem entzündeten Zahn. Das Leben parodiert sich selbst.
            Aber dann kommen Augenblicke ganz anderer Art, Epiphanien, Erfahrungen, in denen es scheint als wäre die Trivialität des absurden Lebens tatsächlich aufgehoben und als würden wir in eine ganz andere Sphäre versetzt.

            Die zweite magische Stelle spielt im Zauberberg und handelt von einem Crayon, einem Bleistift. Er befindet sich im Besitz der faszinierenden Frau Clawdia. Mit virtuoser Erzähltechnik, genau die Art von Virtuosität, die man gern in Creative-writing-Seminaren, sei es an der University of Texas oder anderswo, demonstrieren möchte, verwendet der Meister dieses kleine, elegante Ding um eine unerhört intensive Verführungsszene zu inszenieren. Hans hat also Clawdia gerade gefragt, ob sie ihm ein Crayon leihen könne:

 »Ja, vielleicht«. Und allenfalls war in ihrem Lächeln und ihrer
Stimme etwas von der Erregung, die auftritt, wenn nach langem,
stummem Verhältnis die erste Anrede fällt, — einer listigen
Erregung, die alles Vorangegangene in den Augenblick heimlich
einbezieht. »Du bist sehr ehrgeizig . . . Du bist . . . sehr . . . eifrig
«, fuhr sie in ihrer exotischen Aussprache mit fremdem r und
fremdem, zu offenem e zu spotten fort, wobei ihre leicht verschleierte,
angenehm heisere Stimme das Wort »ehrgeizig« auch
noch auf der zweiten Silbe betonte, so daß es völlig fremdsprachig
klang, — und kramte in ihrem Ledertäschchen, blickte suchend
hinein und zog unter einem Taschentuch, das sie zuerst
zutage gefördert, ein kleines silbernes Crayon hervor, dünn und
zerbrechlich, ein Galanteriesächelchen, zu ernsthafter Tätigkeit
kaum zu gebrauchen. Der Bleistift von damals, der erste, war
handlich-rechtschaffener gewesen.
»Voilà«, sagte sie und hielt ihm das Stiftchen vor die Augen,
indem sie es zwischen Daumen und Zeigefinger an der Spitze
hielt und leicht hin und her schlenkerte.
Da sie es ihm zugleich gab und vorenthielt, nahm er es, ohne
es zu empfangen, das heißt: hielt die Hand in der Höhe des
Stiftes, dicht daran, die Finger zum Greifen bereit, aber nicht
vollends zugreifend, und blickte aus seinen bleifarbenen
Augenhöhlen abwechselnd auf den Gegenstand und in Clawdias
tatarisches Gesicht. Seine blutlosen Lippen standen offen,
und sie blieben so, er benutzte sie nicht zum Sprechen, als er
sagte: »Siehst du wohl, ich wußte doch, daß du einen haben würdest. «

            Wie wunderbar weit entfernt befinden wir uns  von ähnlichen Situationsbeschreibungen in der modernen Populärliteratur  Das ist sehr überzeugend, außerordentlich spannend. Der Gedanke ist natürlich, dass Hans das kleine Ding zurückgeben wird. Aber wohin? Das wird nie erzählt. Thomas Mann hat eine faszinierende Technik, von Zeit zu Zeit den Vorhang in dem was er “mein kleines Theater” nennt, fallen zu lassen.
            Die Virtuosität liegt aber gerade darin, dass sich noch eine andere Erzählung hinter der ersten verbirgt und zwar auch von einem Crayon. Die Geschichte von dem anderen Stift ereignet sich in Hans Castorps Jugend auf dem Schulhof, eine von den Episoden, die wir so leicht verdrängen. Oder niemals vergessen.
            Hier haben wir also eine Geschichte, in der gewissermaßen noch eine andere erzählt wird. So gelingt Thomas Mann jene höhere Dimensionalität, die wir in der Schwindelszene in Beethovens Arietta in Opus 111 bereits erlebt haben:
            Das souveräne, spielartige Schweben über dem Abgrund, von dem wir nie alles wissen werden. Die Literatur spiegelt die Welt, aber sehr unvollständig. Sich dieser Unvollständigkeit bewusst zu sein und nicht zu zögern -  das zu zeigen, ist Thomas Manns große Stärke als Schriftsteller. Und als Mensch, möchte ich gerne hinzufügen.
Der dänische Denker und Aphoristiker Paul LaCour hat gesagt, „Das Gedicht muss immer etwas Rätselhaftes behalten, damit es nicht zur reinen Dekoration wird“.
So ist es wohl.
            Von Thomas Mann können wir sehr viel lernen. Nicht nur wenn es um virtuose  Erzähltechnik geht, sondern auch um das Leben. Das schwierige, paradoxe, rätselhafte, komische und – wie wir alle insgeheim wissen - im Grunde unmögliche Leben.
            Sehr geehrter Herr Bürgermeister, liebe Freunde und Verwandte, sehr geehrte Festversammlung. Für diesen bedeutenden Preis bin ich sehr dankbar und ich versichere, mich von dieser großen Ehre weiter in meinen Bemühungen inspirieren zu lassen.


 

1 comment:

  1. Prima. Gratulerar till den unika utmärkelsen, helt på sin (välförtjänta) plats och ordning. Naturligtvis.

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