München 29.10.2015
Wie finden junge Menschen ihre Bücher? Ganz sicher
nicht zufällig.
Ich weiß nicht genau wie, aber so schreibt Stefan
Zweig in seinem Buch Die Welt von Gestern:
sie finden, was sie brauchen. Sie finden es mit
der gleichen, mystischen Präzision, mit der Wespen an einem Sommertag in
Västmanland ein Glas Himbeersaft über mehr als zehn Kilometer hinweg durch
menschenleere Wälder finden. Es bleibt festzustellen, dass es so ist. Ich glaube,
ohne die frühe Begegnung mit Thomas Mann wäre ich nicht Prosa-Schriftsteller
geworden. Thomas Mann war eines meiner Idole, obwohl es in meinem Alter
natürlicher gewesen wäre, sich mehr für die ausgezeichnete Richmal Crompton zu
interessieren.
Seine Romane waren eine frühe Entdeckung in meinem
Leben. Ich entsinne mich nicht mehr, wer mich darauf aufmerksam gemacht hat.
Doch Tatsache ist, dass ich mit der Lektüre von Doktor Faustus in der beim Exilverlag Bermann-Fischer 1947 in
Stockholm erschienen deutschen Ausgabe begonnen habe, dann aber sehr bald zur
ersten schwedischen Übersetzung wechselte, überwältigt vom Reichtum des
medizinischen, musiktheoretischen und theologischen Vokabulars.
Was habe ich da
gefunden? Ich möchte stellvertretend nur zwei Passagen dieses großen, reichen
Erzählwerks anführen, die mir mit besonderem Glanz und den Verlockungen des
Geheimnisvollen für immer im Gedächtnis geblieben sind. Es war die Zeit meiner
intensiven Leseerlebnisse in den frühen fünfziger Jahren als mir die Existenz dieses
großen deutschen Dichters das erste Mal bewusst wurde.
Ich werde sie chronologisch gänzlich ungeordnet
wiedergeben.
In Kapitel 8 des Doktor
Faustus hält der exzentrische, stotternde, und ein klein wenig dämonische
deutsch-amerikanische Organist Herr Kretschmar,seinen belehrenden Vortrag über
die Frage: ”Warum Beethoven zu der
Klaviersonate Opus 111 keinen dritten Satz geschrieben habe”.
Seinen
atemlos faszinierten Zuhörern, darunter die Freunde Serenus Zeitblom und Adrian
Leverkühn, erläutert Kretschmar das merkwürdige, ja fast obszöne Abenteuer, das
es bedeutet, das ländlich einfache und unschuldige Thema d-g-g- (Lie-besleid, Wiesen-grund) einem halsbrecherischen
Labyrinth von Variationen zu unterwerfen. Hier kommt der Höhepunkt im ”Adagio molto, semplice, e cantabile”:
”Das Charakteristikum
des Satzes ist ja das weite Auseinander von Baß und Diskant, von rechter und linker
Hand, und einen Augenblick kommt eine extremste Situation, wo das arme Motiv
einsam und verlassen über einem schwindelnd klaffenden Abgrund zu schweben scheint - ein Vorgang bleicher Erhabenheit, dem
alsbald ein ängstliches Sich klein Machen, ein banges Erschrecken auf dem Fuße
folgt, darüber gleichsam, das so etwas geschehen konnte. ”
Ich habe mich nie von dem Gedanken freimachen können,
dass Thomas Mann hier etwas sehr Intimes, sehr Authentisches über sich selbst gesagt
hat.
Diese
merkwürdige Stelle in der Arietta, wo das Thema – wie es zuweilen vorkommen
kann – lebensgefährlich über einem Abgrund ganzer Takte von Trillern schwebt hat ein Kritiker als eine der entscheidenden
Stellen in der westlichen Kunstmusik beschrieben. Die Zeit, nicht die Töne sind
ja das Grundmaterial der Musik. Und hier scheint der Zeitfluss für einige Takte
im hegelianischen Sinne aufgehoben. Die Musik verlässt für einen Moment das Musikalische
und wird zu etwas anderem.
Es
ist viel geschrieben worden über Thomas Mann und ich trete ungern in den Wettstreit
mit Experten. Aber genau diese Stelle in diesem großen Künstlerroman scheint
mir etwas Wesentliches über Thomas Mann sichtbar zu machen.
Parodie oder Illumination
– das sind die zwei
Alternativen, die der Teufel Doktor Faustus als die beiden Möglichkeiten anbietet. Sicher nicht zufällig finden wir einen ähnlichen
Gedanken häufiger bei T. S. Eliot. Die Zeit hatte etwas von diesem
Lähmungsgefühl.
Die
Parodie liegt bei Thomas Mann immer nahe, das Absurde auch. Konsul Buddenbrook
stirbt an einem entzündeten Zahn. Das Leben parodiert sich selbst.
Aber
dann kommen Augenblicke ganz anderer Art, Epiphanien, Erfahrungen, in denen es
scheint als wäre die Trivialität des absurden Lebens tatsächlich aufgehoben und
als würden wir in eine ganz andere Sphäre versetzt.
Die
zweite magische Stelle spielt im Zauberberg
und handelt von einem Crayon, einem Bleistift. Er befindet sich im Besitz der
faszinierenden Frau Clawdia. Mit virtuoser Erzähltechnik, genau die Art von Virtuosität,
die man gern in Creative-writing-Seminaren,
sei es an der University of Texas oder anderswo, demonstrieren möchte,
verwendet der Meister dieses kleine, elegante Ding um eine unerhört intensive
Verführungsszene zu inszenieren. Hans hat also Clawdia gerade gefragt, ob sie
ihm ein Crayon leihen könne:
»Ja, vielleicht«. Und allenfalls war in
ihrem Lächeln und ihrer
Stimme etwas von der Erregung, die auftritt, wenn nach langem,
stummem Verhältnis die erste Anrede fällt, — einer listigen
Erregung, die alles Vorangegangene in den Augenblick heimlich
einbezieht. »Du bist sehr ehrgeizig . . . Du bist . . . sehr . . . eifrig
«, fuhr sie in ihrer exotischen Aussprache mit fremdem r und
fremdem, zu offenem e zu spotten fort, wobei ihre leicht verschleierte,
angenehm heisere Stimme das Wort »ehrgeizig« auch
noch auf der zweiten Silbe betonte, so daß es völlig fremdsprachig
klang, — und kramte in ihrem Ledertäschchen, blickte suchend
hinein und zog unter einem Taschentuch, das sie zuerst
zutage gefördert, ein kleines silbernes Crayon hervor, dünn und
zerbrechlich, ein Galanteriesächelchen, zu ernsthafter Tätigkeit
kaum zu gebrauchen. Der Bleistift von damals, der erste, war
handlich-rechtschaffener gewesen.
»Voilà«, sagte sie und hielt ihm das Stiftchen vor die Augen,
indem sie es zwischen Daumen und Zeigefinger an der Spitze
hielt und leicht hin und her schlenkerte.
Da sie es ihm zugleich gab und vorenthielt, nahm er es, ohne
es zu empfangen, das heißt: hielt die Hand in der Höhe des
Stiftes, dicht daran, die Finger zum Greifen bereit, aber nicht
vollends zugreifend, und blickte aus seinen bleifarbenen
Augenhöhlen abwechselnd auf den Gegenstand und in Clawdias
tatarisches Gesicht. Seine blutlosen Lippen standen offen,
und sie blieben so, er benutzte sie nicht zum Sprechen, als er
sagte: »Siehst du wohl, ich wußte doch, daß du einen haben würdest. «
Wie
wunderbar weit entfernt befinden wir uns
von ähnlichen Situationsbeschreibungen in der modernen Populärliteratur Das ist sehr überzeugend, außerordentlich
spannend. Der Gedanke ist natürlich, dass Hans das kleine Ding zurückgeben
wird. Aber wohin? Das wird nie erzählt. Thomas Mann hat eine faszinierende Technik,
von Zeit zu Zeit den Vorhang in dem was er “mein kleines Theater” nennt, fallen
zu lassen.
Die
Virtuosität liegt aber gerade darin, dass sich noch eine andere Erzählung hinter
der ersten verbirgt und zwar auch von einem Crayon. Die Geschichte von dem
anderen Stift ereignet sich in Hans Castorps Jugend auf dem Schulhof, eine von den
Episoden, die wir so leicht verdrängen. Oder niemals vergessen.
Hier haben
wir also eine Geschichte, in der gewissermaßen noch eine andere erzählt wird. So
gelingt Thomas Mann jene höhere Dimensionalität, die wir in der Schwindelszene
in Beethovens Arietta in Opus 111 bereits erlebt haben:
Das souveräne,
spielartige Schweben über dem Abgrund, von dem wir nie alles wissen werden. Die
Literatur spiegelt die Welt, aber sehr unvollständig. Sich dieser
Unvollständigkeit bewusst zu sein und nicht zu zögern - das zu zeigen, ist Thomas Manns große Stärke
als Schriftsteller. Und als Mensch, möchte ich gerne hinzufügen.
Der dänische Denker und Aphoristiker Paul LaCour hat
gesagt, „Das Gedicht muss immer etwas Rätselhaftes behalten, damit es nicht zur
reinen Dekoration wird“.
So ist es wohl.
Von
Thomas Mann können wir sehr viel lernen. Nicht nur wenn es um virtuose Erzähltechnik geht, sondern auch um das
Leben. Das schwierige, paradoxe, rätselhafte, komische und – wie wir alle insgeheim
wissen - im Grunde unmögliche Leben.
Sehr
geehrter Herr Bürgermeister, liebe Freunde und Verwandte, sehr geehrte
Festversammlung. Für diesen bedeutenden Preis bin ich sehr dankbar und ich versichere,
mich von dieser großen Ehre weiter in meinen Bemühungen inspirieren zu lassen.
Prima. Gratulerar till den unika utmärkelsen, helt på sin (välförtjänta) plats och ordning. Naturligtvis.
ReplyDelete