Jean Buridan, der große Nominalist (1295-1358) entwickelte ein berühmtes Argument in der Diskussion über Wahl und Wahlfreiheit: Wäre unser Akt des Wählens ganz und gar von den Verlockungen oder Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, abhängig, so müsste ein Esel, der genau zwischen zwei gleich gut duftenden Heuhaufen platziert wird, Hungers sterben.
Wie bekannt, verhungert niemand, weder Mensch noch Tier, am Zweifel. Es gibt einen Augenblick, in dem wir wählen, egal wie ebenbürtig die Alternativen (einander) auch sind.
Dieser Augenblick ist rätselhaft. Er hat keinen erlebbaren Inhalt.
Ein berühmter Hinweis in Diskussionen über den freien Willen ist, dass Wahlfreiheit nicht das gleiche ist wie totale Unvorhersehbarkeit. Eine psychisch gestörte Persönlichkeit, z. B. ein Drogenabhängiger, der uns im nächsten Augenblick mit praktisch jeder möglichen Handlung überraschen kann, bietet kein Paradigma für Willensfreiheit. Sonst hätte ein Zufallsgenerator den freiesten Willen.
Die Wahl zwischen den beiden Heuhaufen ähnelt eher der künstlerischen Inspiration und ihren Bedingungen. Ideen kommen zu uns. Aus dem Nichts. Aber sie kommen nicht zufällig. Sie kommen aus der Situation. Aber sie sind nicht die Situation.
Die Entscheidung zwischen Heuhaufen1 und Heuhaufen2 ist die Wahl eines, und zwar ausschließlich eines von zweien. Aber sie ereignet sich, als hätte sie keine Bedeutung.
Timothy Gallway zeigt in seinem ausgezeichneten Essay ‚The Inner Game of Tennis‘, dass die beste Art, einen zufriedenstellenden Tennisaufschlag zustande zu bringen, die ist, ihn einfach geschehen zu lassen. Dieses ‚Geschehen-lassen‘ ist eine Art Null-Zustand. Wenn wir so wollen der leere Punkt, also der Nullpunkt zwischen zwei Heuhaufen. Das ist der schöpferische Augenblick.
Leseprobe aus Lars Gustafsson "Gegen Null.Mathematische Phantasien.Sezession Zürich & Berlin 2011.Deutsch v. Barbara Carlson