Mit ”Soziologie” meine ich mehr oder weniger systematische Versuche eine Gesellschaft zu begreifen. Dabei ergeben sich ,wie wir alle wissen,verschiedene Methoden und sie führen zu verschiedenen Auffassungen von dem Verständnis .
Was könnte es also bedeuten ,eine Gesellschaft zu begreifen?Denken wir uns,dass wir in Flandern,oder Skandinavien um 1200 leben !Eine Gesellschaft ohne andere nächtliche Beleuchtung als Kerzen und Fackeln lässt sich denken,genau wie eine Gesellschaft wo es keine andere Transportmittel gibt als Schiffe,Boote und Pferde.Diese Tatsachen haben natürlich eine Bedeutende Erklärungsstärke,aber wir brauchen noch etwas .
Wie wäre es,vollkommen überzeugt ,und ich meine vollkommen siche,und nicht sentimental a la Schleiermacher,sicher zu sein, dass ewige Qualen und ewige Belohnungen uns nach unserem Tode erwarten als Folge unseren Handlungen ? Dieser Unterschied ist wie wir alle begreifen immateriell. Es ist ein Unterschied in der Ausdeutung der existierenden Welt und eine notwendige Bedingung für jedes Verständnis der Mittelalterlichen Gesellschaft.
Es gibt also in dem Gesellschaftsleben entscheidende Tatsachen die weder restlos in ökonomischen oder demographischen Begriffen beschreibbar sind,noch statistisch messbar.
Menschen des Europäischen Mittelalters leben in einer Ausdeutung der Welt,die so verschieden von der unseren ist,dass mann eigentlich nicht von derselben Welt reden kann.
Was für Flandern um 1200 hält ,hält selbstverständig auch für Trier im Jahre 2007.Auch hier gibt es eine Weltausdeutung,ein Bündel von allgemein acceptierten Überzeugungen ,von denen mann kaum abweichen kann,ohne als mental unzuverlässig angesehen werden. Z.B die Ueberzeugung dass materielle Vorgänge nur materielle Ursachen haben oder das soziale Probleme mit Gesetzgebung gelöst werden können. Meinungsumfragen zeigen z.B. dass moderne Europäer in einem viel geringeren Ausmass als Einwohner der Vereinigten Staaten eine Beziehung zu einem persöhnlichen Gott haben.Dies führt natürlich zu nicht immer so subtilen Verschiedenheiten in der Wirklichkeitsdeutung, Unterschiede die kaum bewusst sind aber trotzdem einen bedeutenden Einfluss auf das allgemeine Leben ausüben.
Nur dass alles hier in paradoxaler Weise weniger sichtbar wird.”Kulturelle Selbstverständigkeiten” nannte Norbert Elias diese Sitten und Vorstellungen,Begriffe und Werte die so kennzeichnend für eine Gesellschaft sind ,das sich ihre Mitglieder derer gar nicht bewusst werden.
In meiner Jugend ,die Teilweise in Schweden stattfand,herrschte damals sehr strenge positivistische Ideale und die Soziologie war von dem damals herrschenden Ideal von hard data sehr geprägt.Ernst zu nehmen waren Signifikansanalysen, , Auswahlsmethoden und ähnliches.Die Lehrbücher sahen aus wie physikalische Lehrbücher mit genau so viele Formeln,nicht selten von mathematisch zweifelhaften Qualität.
Ein Professor der Universität Stockholm hat, mit einem beträchtlichen Aufwand von Geld und Assistentinnen, dies war Mitte der Fünfzigerjahren, als es viel Geld und viele Assistentinnen gab,bewiesen, das es eine klare positive Korrelation gäbe,zwischen dem Besitz von einem Fernsehgerät und dem Fernsehen.
Wenn ich gefragt habe ob dies wirklich nicht auch ohne Soziologie feststellbar wäre,har mann mir immer versichert dass die statistisch festgestellte Wahrscheinlichkeit etwas viel nobleres wäre als primitive Intuitionen. Die Physiker unter meinen damaligen Studentenfreunden hatten es eigentlich nicht leichter,obwohl ihre Formel eleganter waren.Boltzmanns zweites Gesetz der Thermodynamik war ja auch auf eine Wahrscheinlichkeit gegründet,und was hatte eigentlich Wahrscheinlichkeit mit physikalische Kräfte und Gesetze zu tun ?
Meine erster Kontakt mit der Soziologie machte mich in der Tat so enttäuscht dass ich schon nach einem einzigen Semester damit aufgehört habe .Es war viele Jahren später, erst bei der Lesung von Wolf Lepenies ”Melancholie und Gesellschaft” als mir klar wurde dass Soziologie ein ganz anderes Verständnis von einer Gesellschaft und ihren Wandlungen bedeuten könnte.
Lepenies machte keine Meinungsumfragen,er hatte in sehr intelligenter Weise Bücher,Briefe und Tagebücher einer ganzen Epoche gelesen,besonders die Dokumente von La Fronde – dem Adelsaufruhr gegen Ludvig XIV - und war zu einer Schlussfolgerung gekommen: eine Machtelite die ihren Einfluss verloren hat neigt zu Introversion, und Sentimentalität. Der Salong und die Salongskultur entstehen aus einer Niederlage und daus dem Bedürfnis ihrer Bewältigung.In einem anderen genialen Deutschen Buch von ungefähr den selben Jahren, Wolfgang Schievelbuschs ”Sozialgeschichte der Eisenbahnreise” konnte man eine andere Methode studieren.Schievelbusch hatte so elegant demonstriert wie eine neue Technologie – die Eisenbahn – und ihre unvermeidliche Folge , der Eisenbahnunglück - zu neuen Begriffswelten,ja sogar zu einem neuen Psycholischen Begriff führen: das Trauma.
Es gibt keinen Grund eine auf Meinungsumfragen und Korrelationen eingerichtete Soziologie in Frage zu stellen.Genau so wenig wie Temperaturmessungen von den verschiedenen Schichten eines Sees.
Das intressante davon ist wozu sie verwendet werden können,und wozu sie nicht verwendet werden können.
Wir haben jetzt eine erste Definition von dem Verständnis:Korrekte Daten plus eine intressante Interpretation.Was können wir damit ausrichten ?
Wie sieht die intressante Interpretation – oder Ausdeutung - aus ? Eine Einsicht in ein System von Ursachen und Wirkungen ? Es gibt z.B. eine deutliche Korrelation – von dem mann ungern redet – zwischen die plötzliche Abnahme der Kriminalität in New York und die demographischen Folgen von Roe v. Wade. Welche Hypotese sollte davon bestätigt werden ? Ein ganz schlimmer Rassismus, ein dialektischer Materialismus,ein liberaler Reformismus könnten alle ihre unvereinbaren Interpretationen von diesem Statistik ablesen.
Womit können die Dichter beitragen zu einer intressanten Ausdeutung von empirischen Sachverhältnisse ? ? Die Dichtung einer Epoche bewegt sich,könnte mann vielleicht sagen ,zwischen die Spiegelung von dem Offenbaren und allen bekannten und das Versschweigen von den kulturellen Selbstverständlichkeiten. Und das Verschweigen ist genau so interessant wie das Erwähnen.
Die Spiegelung von dem Offenbaren bietet etwas,was mann Illustrationen nennen könnte.Einige einfache Beispiele:
1. In Niala,oder Nials Saga,die vielleicht stärkste unter den Isländischen , lernen’wir eine Gesellschaft in einer dramatischen Übergangsphase kennen.Es handelt sich um die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ein Diebstahl ist eine schändliche Handlung,die nicht nur ein Individuum,sondern ihre ganze Familie für immer zu Schande und Ostracismus führt,weil ein Mord immer mit Geldbüssen kompensiert werden kann.In diese sehr tribale Welt mit ihren sehr strengen Normen dringt dann langsahm eine Christlich inspirierte neue Moral;für eine ziemlich lange Zeit existieren zwei Normsyssteme nebeneinandern.Und die
Interaktion zwischen den beiden führt zu Verwirrung aber auch zu der Entwicklung von sehr starken Persöhnlichkeiten,worunter Nial,der tragische Held von dem grossen Roman vielleicht am meisten bemerkungswert ist.
Die moralische Vorstellungen verändern sich,kollidieren mit einandern und vor allem mit einer älterer Rechtsprechung, machen alte Tugenden obsolet und fordern neue. Die starke Protagonisten in dem Saga werden von diesen Kontradiktorischen Ausforderungen invadiert,sie wehren sich,sie verändern sich und sie vergehen.
2. Emile Zolas La Bete Humaine,ein starker Roman über tiefe ,ja sehr brutale Passionen,wo alles in genialer Weise durch das Bild einer einbrechenden neuen Technologie gesichtet wird;die Eisenbahn,mit ihren neuen Anforderungen an Personal und Passagiere,mit ihren Katastrophen und Möglichkeiten aber vor allem mit einem sehr detaillierten Bild von dem Aufkommen einer neuen technischen Elite,die Ingenieure und ihre Mithilfer die diesen neuen,die ganze Gesellschaft schnell verändernte technologischen Riesenorganismus.Es handelt sich sehr viel von einer Welt wo die geographischen Abstände sich mit fast magischer Macht verkleinert haben und von den neuen sozialen und erotischen Beziehungen,die in einer solchen Welt möglich werden. Auffallend ist wie Zola in diesem Roman sich von einer biologistischen Metaforik benützt.Es begrenzt sich nicht auf die Anwendung von einer soziologischer Lehre die auch August Strindberg und viele andere Schriftsteller der Epoche beinflusste:Cesare Lombrosos Verbrechertypus.
Der Biologismus geht bis ins Mark von der Erzählung.Die grosse Lokomotive,liegend auf der Seite des Bahns nach einer Kollisionskatastrophe werden zu sterbenden Tieren.Durch den Roman geht ein paradoxaler starker Widerstand gegen die neue Technologie,symbolisiert im stärksten am Ende, mit einem führerlosen Truppentransportzug,mit zunehmender Geschwindigkeit auf dem Weg zu einem höchst unsicheren Endstation. Es gibt unter der unmittelbaren Fläche eine leidenschaftliche Diskussion von biologischer und sozialer Determinismus in diesem Roman.
Die Begegnung zwischen verschiedenen sozialen Welt,manifestiert von den Reisenden in der Schnellzügen zwischen Paris und der Hfen in le Havre und die ziemliche abgekommene ländliche Bevölkerung bei der Bahn.Beide nehmen einandern wahr,aber nur in einem phragmentarischen Form als schnell hervorschimmernden Bildern,und wenn endlich ein Kontakt zwischen diese beide soziale Welten zustande kommt ,ist es in der äusserst gewaltsamen Form einer Katastrofe. Es wäre viel mehr zu sagen über die soziologische Implikationen von diesem merkwürdigen Roman,der natürlich eine politische Dimension besitzt,aber wir bleiben fürs Augenblick da.
3. Ein dritter Beispiel ; die Sherlock Holmes- Geschichten von Conan Doyle.Nicht nur weil sie die soziale Struktur,die Klassen ein Bischen sichtbar machen;die Verbrecher der Erzählungen sind ja ziemlich unrealistisch;die sind fast alle entartete Gentlemen.Aber vielleich genau deswegen interessant.Interessanter als die Schilderung von der grossen Stadt und ihre fast grenzlosen Möglichkeiten sind solche Details wie Maskierungen und Demaskierungen und überhaupt das Massenerlebnis wovon Walter Benjamin später so erleuchtend erzählen wird in seinem Passagenwerk.Diese Detektiv- und Kriminalgeschichten handeln von Spuren,von dem was Menschen hinterlassen.
Was massgebend für eine grosse Literaturgattung wurde.
Die Beobachtungen die in der anonymen Platz eines Verbrechens gemacht werden können führt zu einem Verbrecher der nicht mehr anonym ist.Die handlungen lassen Spuren nach,ungefähr wie die musikinstrumenten oder Schmücke in deren Negativabdrücke sie zu dieser Zeit sorgfältig paketiert werden.
Negativandrücke;dies führt uns zu etwas was vielleicht die interessanteste Seite von diesem Problematik darstellt und zwar,viel interessanter als die Rolle von der Literatur als Illustration..Die Literatur als Negativabdruck der Gesellschaft.Was viel spannender als Literatur als Illustration vorkommen muss.
Wenn die Dichter den Soziologen behilflich sein können,handelt es sich nicht selten um so genannte Abduktionen.Deduktionen sind,wie alle wissen,sehr sicher und ziemlich inhaltlos:
A ist grösser als B
B ist grösser als C
-----------------------
A ist grösser als C
ist eine Deduktion.Induktionenn sind , wie David Hume uns gelernt hat ,nie sicher aber können solide Erkenntnisse ermitteln.Die Schmelztemperaturen von Eisen und die idealische
Zeit für Kartoffelpflanzen am 60 nördlichen Breitgrad sind typisch intressante Ergebnisse von Induktionen.Die lassen sich nicht so leicht formalisieren wie Deduktionen.Ein Form wäre vielleicht:
In alle Fälle bisher war ein A ein B
X ist ein A
----------------------------------------------
X ist ein B
Die Schwachstelle liegt in dem bisher.
Die Abduktion ,bekannt schon seit Aristoteles ,hat,könnte mann vielleicht sagen;einen Rückwärtsgang.
Q ist der Fall
Suche jetzt den Zustand P der in Q resultieren kann.
Wenn P einen solchen Chracter hat dass Q folgen könnte,ist P eine Erklärung von Q.
Es gibt in Baskervilles Dog eine Nacht wenn der Dämonische Hund nicht hörbar war.In dieser Stille des Hundes findet Sherlock Holmes die Lösung von dem Enigma.Es ist ein offenbarer Vorurteil dass mann Kenntnisse nur in dem geschriebenen suchen könnte.Es steckt auch in dem nicht geschriebenen.
Wie viele stille Hunde gibt es in der Weltliteratur ? Oder , - mit anderen Worten,Texten und Textstelle die uns genau in ihren Lakunen etwas wichtiges erzählen können ?
Diese Leerstellen,Norbert Elias kulturelle Selbstverständlichkeiten ,können von verschiedener Art sein.
Warum gibt es keine Datoren in Orwells 1984 ? Warum keine Sexualverbrechen in dem Praktik von Sherlock Holmes ? Warum keine Proletarier in Ibsens grosse Spätdramen ? Sie kommen ja vor in Strindbergs naturalistische Dramen,geschrieben zur selben Zeit.
Lauter Gelegenheiten zu Abduktionen.
Abduktives Denken spielt eine viel grössere Rolle im Leben als wir uns es vielleicht denken. Besonders in Situationen wo alle
Ist es vielleicht möglich Kenntnisse von einer Gesellschaft zu gewinnen,in dem mann späht nach dem Schweigen,nachdem was nicht in ihren Büchern steht ? Was fehlt weil es allzu selbstverständlich ist ? Dies ist,glaube ich eine Methodische Fragen die sich gut auf die Literatur einer Epoche anwenden lässt.Und sicher – gegen unsere Epoche gerichtet werden kann. – was ist es das nicht in unseren Romanen vorkommt ,obwohl es unsere Leben dominiert ? Computerspiele ? Wann trafen wir einen computerspielenden Protagonist in einem neuen Roman ?
Oder vielleicht Fernsehen ?
Lecture given at the Sociology Department University of Trier 2008
Friday, December 18, 2009
Ist Dichtung eine Erkenntnisquelle der Soziologie?
Subscribe to:
Post Comments (Atom)
ja - ich habe recht viele - ziemlich kleine zwar - aber doch - schreibfehler - gefunden - aber ich glaube - dass ich diesmal keine korrekturen machen will - den inhalt habe ich ja - wenigstens das meiste - verstanden - das ist doch das wichtigste... nur kleinbuchstaben zu schreiben ist doch sprachlich inkorrekt im deutschen - ich bin dessen bewusst - aber tue es immerhin...
ReplyDelete